Das weiße Pferd

Ein alter Mann lebte in einem kleinen Dorf und war sehr arm. Obwohl er so arm war, waren viele Menschen – sogar die Könige – neidisch auf ihn. Der Grund für den Neid der anderen Menschen war das weiße Pferd, das der arme Mann besaß. Wenn er gewollt hätte, hätte er seiner Armut schnell ein Ende setzen können, wenn er sein Pferd verkauft hätte. Denn die Könige boten phantastische Summen für das Pferd. Ganz egal, wie viel Geld sie ihm boten – der Mann verkaufte das Pferd nicht. 

Eines Morgens fand er sein Pferd jedoch nicht wie gewohnt im Stall vor. Als sich das ganze Dorf versammelte, halfen die Leute dem armen Mann nicht, sondern sagten stattdessen: „Du dummer alter Mann, was haben wir dir gesagt? Warum hast du nur das Pferd nicht verkauft? Wir haben es immer gewußt, dass das Pferd eines Tages gestohlen werden würde. Es wäre wirklich besser gewesen, es zu verkaufen. Welch ein Unglück ist jetzt geschehen!“

Der alte Mann aber sagte: „Kann sein oder kann nicht sein. Warum gleich urteilen? Wir wissen nicht, was passiert ist. Verbreitet keine Stimmen, von welchen ihr nicht wisst, ob sie wahr sind. Sagt stattdessen das, was ist, und was ihr wisst. Was wir wissen ist, dass das Pferd nicht im Stall ist. Das ist die einzige Tatsache, die wir haben. Alles andere sind Urteile. Ob es ein Unglück oder ein Segen ist, weiß ich nicht, weil ich nicht weiß, was darauf folgen wird.“

Die Leute lachten den Alten aus. Sie hatten schon immer gewusst, dass er ein bisschen verrückt war.

Nach 14 Tagen kehrte das Pferd jedoch plötzlich zurück. Es war nicht gestohlen worden, sondern es war in die Wildnis ausgebrochen. Das Pferd war jedoch nicht nur zurückgekommen, sondern es hatte  12 wilde Pferde mit sich zurückgebracht. Wieder versammelten sich die Leute und sagten: „Alter Mann, du hattest recht. Am Ende hat sich die Situation zum Guten gewendet und das Pferd, das weggelaufen war, hat sich als Segen erwiesen.“ 

Der alte Mann erwiederte: „Kann sein oder kann nicht sein. Warum gleich urteilen? Sagt einfach, dass das Pferd zurückgekommen ist. Wenn ihr nur ein einziges Wort in einem Satz lest, wie könnt ihr über das ganze Buch urteilen?“

Doch die Leute schüttelten nur verständnislos ihre Köpfe.

Der alte Mann hatte einen einzigen Sohn. Dieser kümmerte sich nach der Rückkehr des Pferdes darum,  die Wildpferde zuzureiten. Schon eine Woche später fiel er dabei vom Pferd und brach sich beide Beine.

Wieder versammelten sich die Leute und wieder urteilten sie: „Was für ein ein Unglück! Dein einziger Sohn kann nun seine Beine nicht mehr gebrauchen, und er war die Stütze deines Alters. Jetzt bist du ärmer als je zuvor!“ Der Alte antwortete: „Kann sein oder kann nicht sein. Ihr seid davon besessen, immer alles zu beurteilen. Geht nicht so weit. Mein Sohn hat sich die Beine gebrochen hat. Niemand weiß, ob dies ein Unglück oder ein Segen ist.“

Die Menschen wunderten sich über den Alten. Es begab sich, dass das Land nach ein paar Wochen einen Krieg begann. Alle jungen Männer des Ortes mussten zum Militär gehen, um für das Land im Krieg zu kämpfen. Nur der Sohn des alten Mannes blieb zurück, weil er nicht laufen konnte. Der ganze Ort trauerte bereits und Wehgeschrei erfüllte die Gassen und Häuser. Denn die Menschen wussten, dass die Chancen auf einen Sieg in diesem Krieg sehr schlecht standen. Sie wussten, dass die meisten nicht nach Hause zurückkehren würden. Sie kamen zu dem alten Mann und sagten: „Du hattest recht, alter Mann. Dass sich dein Sohn seine beiden Beine gebrochen hat, hat sich als Segen erwiesen. Dein Sohn ist zwar verkrüppelt, aber immerhin ist er noch bei dir.“

Der alte Mann antwortete wieder: „Kann sein oder kann nicht sein. Ihr hört nicht auf zu urteilen! Ihr wisst doch nur, dass man eure Söhne in die Armee eingezogen hat und dass mein Sohn nicht eingezogen wurde. Nur Gott, der das Ganze überblickt, weiß, ob dies ein Segen oder ein Unglück ist.“