Von Tierarten und Pflanzenwelten: Die Naturvergessenheit der jungen Generation

Unsere Kinder haben nicht nur Defizite im Lesen und Rechnen – ihnen fehlt auch Wissen über heimische Tiere und Pflanzen. Unser Autor schlägt Alarm.

Vorwind Verein | Vater mit Tochter beim Wandern im Winterwald

Die aktuelle IGLU-Studie schlägt Alarm: Jeder vierte Viertklässler kann nicht richtig lesen. Forschern zufolge werden betroffene Kinder künftig in einer Vielzahl von Schulfächern Probleme haben, sollten sie diesen Rückstand nicht wettmachen. Studien wie IGLU und PISA ist große Aufmerksamkeit sicher. Sie decken immer wieder mangelnde Kenntnisse im Lesen, Schreiben oder in den Naturwissenschaften auf. So weit, so plausibel. Aber auch über die heimische Natur wissen Kinder und Jugendliche immer weniger.

Das beklagte der Landesbund für Vogelschutz Bayern bereits 2020. Das gelte nicht nur für den Freistaat, sondern bundesweit und werde immer wieder von verschiedensten Institutionen angemahnt. Das klingt nicht überraschend: Immer mehr Menschen wohnen in Städten, direkte Kontakte mit der Natur dürften dadurch immer seltener werden und weniger intensiv sein.

Außerdem hat sich das Freizeitverhalten in den letzten Jahrzehnten deutlich verändert. Dabei spielen das Internet, Computerspiele und die sozialen Netzwerke eine große Rolle. Einer Studie der DAK zur Folge haben im Sommer 2022 Kinder und Jugendliche an Werktagen im Durchschnitt mindestens 165 Minuten lang soziale Medien genutzt. Auf den ersten Blick erscheint es eher als Wissensbonus und nicht als Teil von Allgemeinbildung, wenn man eine Handvoll Tier- und Pflanzenarten erkennen kann oder über ein paar Zusammenhänge in der Natur Bescheid weiß. Wenn aber Kinder Tier- und Pflanzenarten nicht erkennen, werden sie diese auch dann nicht vermissen, wenn sie für immer verschwunden sind.

Vorwind Verein | Glückliche zwei Mädchen, die Stand Up Paddleboards lernen.

Ein Beitrag in der Zeitschrift „Naturschutz und Landschaftsplanung“ wies 2022 darauf hin, dass in der frühkindlichen Erziehung nur selten eine ausreichende Beziehung zur heimischen Natur vermittelt wird. Dabei gehe es vor allem um die Bildung von Interessen und Werten, weniger um das Vermitteln von Wissen. Gerade im Alter zwischen drei und sieben Jahren würden sich bereits wesentlich Merkmale einer Persönlichkeit entwickeln.

Die Bildung auf den genannten Gebieten müsse in Kindergärten, Bildungsplänen der Bundesländer und in der Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern verbessert werden. Die Kinder von heute werden in zwei bis drei Jahrzehnten wesentliche gesellschaftliche Akteure sein. Genau dann wird sich zeigen, mit welchen Werten sie aufgewachsen sind, welche Interessen gefördert wurden. Sie werden Entscheidungen treffen, berufliche und private. Zum Beispiel werden sie entscheiden, welche Art von Verkehrsmitteln sie nutzen, wie sie konsumieren und wie sie ihren Urlaub gestalten. Schließlich werden ihre Wertvorstellungen auch beeinflussen, ob und in welcher Weise sie sich ehrenamtlich oder politisch engagieren.

Rückgang bei Naturwissen

Wer wenig über die heimische Natur weiß und diese nicht als existenzielle Lebensgrundlage erkennt, wird sich bei all diesen Entscheidungen wenig Sorgen um die Artenvielfalt machen. Genau für diese Sorgen gibt es aber handfeste Gründe. Das Bundesamt für Naturschutz gibt beispielweise an, dass etwa 40 Prozent der heimischen Tier-, Pflanzen- und Pilzarten in ihrem Bestand gefährdet oder extrem selten geworden sind.

Der Wissenschaftsjournalist Volker Angres bewertet im Buch „Das Verstummen der Natur“ die Wissenserosion im Bereich Natur sogar als eine der größten Herausforderungen in der Bildungspolitik in Deutschland. Um dieser entgegenzuwirken sei das Kindesalter besonders wichtig. Im Gegensatz zu Fähigkeiten im Lesen und Rechnen wirken sich Versäumnisse im Bereich Naturbildung erst mit langjähriger Verzögerung aus. Dann lassen sie sich nur noch schwer beheben.

Keine gute Idee dürfte es sein, dieses Thema aus der kindlichen Entwicklung herauszuhalten, weil sich ja später Spezialisten um die Natur kümmern könnten. Diese haben selten die Position, bedeutende Entscheidungen im Sinne des Artenschutzes und der Natur zu treffen. Außerdem würden Spezialisten einen schweren Stand haben, wenn weite Teile der Gesellschaft keinen „Draht“ zur Natur haben. Vorschläge und Warnungen haben nur dann eine Chance angenommen zu werden, wenn eine Mehrheit die Natur als hohes Gut ansieht und wenigstens ein paar Grundkenntnisse über sie hat.

Vorwind Verein | Kleiner Junge streichelt Schafe. Kind im Streichelzoo im Freien

Der schon erwähnte Landesbund für Vogelschutz Bayern stellt übrigens einen Rückgang von Naturwissen bei allen Altersgruppen in Deutschland fest, also auch bei Erwachsenen. Allerdings sind Kinder und Jugendliche grundsätzlich besser erreichbar und lernfähiger als Erwachsene. Sie müssen sich erst mal zwangsläufig mit Bildungs- und Lehrinhalten auseinandersetzen – egal, ob sie von vornherein davon begeistert sind. Wissen und Werte über die Natur zu vermitteln erscheint nicht einmal besonders schwierig. Nötig ist es allerdings, sich gemeinsam mit Kindern in die Natur hineinzubegeben, sie zu sehen, zu hören und zu riechen.

Häufig reicht ein großer Park oder ein Ausflug ins Berliner Umland. Wissen können sich Kinder dabei spielerisch aneignen und nichts spricht dagegen, Tablet, Handy und Co. als Hilfsmittel zu nutzen. Kindern Werte und Interessen im Bereich Natur zu vermitteln, ist einer der Schlüssel zur Eindämmung des Artensterbens. Die festgestellten Defizite müssen dafür erst einmal als gesellschaftlich bedeutendes Problem erkannt werden, auf Augenhöhe mit dem Nachholbedarf in anderen Bereichen. Um sich Wissen über die Natur anzueignen, sind natürlich auch Fähigkeiten im Lesen, Schreiben und den Naturwissenschaften nützlich. PISA und IGLU lassen grüßen.